
Reportage
Ein kurzes Schnuppern. Die Luft schmeckt
nach dem am Wegrand blühenden Fenchel und
danach, als habe einer der vielen talentierten Inselköche
einige Zweige Oregano und Thymian in
der Pfanne angeröstet. Mal riecht es nach aufgeplatzten
überreifen Feigen, mal nach abgeknickten
Wacholderblättern. Noch ein weiteres Aroma
destilliert die flirrende Mittagshitze aus der hügeligen
Landschaft – viel herber als alle anderen,
deutlich würziger. Die Mastixsträucher weinen.
Und die Bauern auf Chios wissen: Es ist es an der
Zeit, deren duftende Tränen zu ernten.
Der frühe Vogel …
Wer mithelfen will, muss früh aufstehen, zum
Schutz der Knie eine lange Hose anziehen, und
einen langen Atem haben. Denn die Gewinnung
von Mastix, dem Harz der Wilden Pistazie, ist
harte Arbeit. „Wer schnell ist, schafft pro Stunde
gerade mal drei Sträucher“, sagt Giorgos Vasilikos,
der mit seiner Familie stolze 4.000 besitzt
und gepachtet hat. Noch vor Sonnenaufgang machen
sich der 36-Jährige und sein Vater Pantelis
deshalb auf den Weg. Früher ritten die Bauern
aus dem Dorf Pyrgi auf ihren Eseln zu den Feldern
mit den Mastixsträuchern. Heute holpern
Pritschenwagen durch die Dämmerung. Doch
die Prinzipien des Anbaus sind auf Chios immer
noch die gleichen wie vor rund 2.000 Jahren.
In Reih und Glied stehen die Sträucher mit den
immergrünen dunklen Blättern auf den Feldsteinterrassen.
Die Veteranen unter ihnen, oft
mehr als 75 Jahre alt, verrenken ihre knorrigen
Stämme, als seien es zu groß geratene Bonsai-
Bäume. Damit das kostbare Harz auf den Boden
tropft und nicht auf andere Äste, werden die Büsche
immer wieder zurechtgestutzt. Als deckten
sie den Tisch, bringen die Bauern darunter weißen
Kalk aus – die Ernte soll möglichst wenig
mit Erde verunreinigt werden. „Kurz vor der heißesten
Zeit des Jahres ritzen wir dann die Äste
ein. Und warten, bis Harz aus der verletzten Rinde
austritt“, erklärt Giorgos Vasilikos. Wenn ein
Großteil des ätherischen Öls verdunstet ist, kann
er das getrocknete Harz dann einsammeln – auf
dem Boden kniend und möglichst früh am kühlen
Morgen, wenn die weißen Klumpen noch
hart sind.
Was die Legende besagt
In der Antike wurden die „Tränen von Chios“ als
edles Produkt des Mittelmeers gerühmt. Der Legende
nach begannen die Sträucher zu weinen,
als der zum Christentum konvertierte römische
Soldat Isidor dort enthauptet wurde – heute ist
der standhafte Märtyrer der Schutzpatron der
Insel. Doch bereits im Alten Testament wird das
Harz als kostbare Ware gepriesen. Perser, Osmanen
und Genuesen zogen in den Krieg, um sich
das Monopol für den Handel mit dem Duftstoff
zu sichern. Bis heute stehen entlang der wilden
Küste der Ägäis-Insel auch Dutzende von Wachtürmen
aus dem Mittelalter Spalier: Sie sollten
die Insulaner, vor allem aber ihr weißes Gold vor
Piratenüberfällen schützen.
Typisch maritim-griechisches Feeling wartet
an der Küste von Chios.
Mit Mastix heilten die besten Ärzte der Antike
Brandwunden, Hautprobleme und Magenverstimmungen.
Es wurde ein Genussmittel für alle,
die es sich leisten konnten – auch der Wein der
Gladiatoren von Rom wurde damit aromatisiert.
Doch die größten Abnehmer saßen immer im
Orient: In Istanbul bestellte der Sultan gleich
tonnenweise Mastix als Kaugummi für seinen
In Tropfenform „weinen“
die immergrünen
Sträucher.
Chios, die Schatzinsel Griechenlands
Duftende Tränen
Wo die Pistazien weinen: Auf Chios erntet man seit
tausenden Jahren ein aromatisches Harz. Die griechische
Insel ist wildschön und durch den Anbau von Mastix geprägt.
Die Seltenheit kommt in Küche und Kosmetik zum Einsatz.
4 glücksblatt
Griechenland/Chios:
Mastix-Kultur
Schmackhafte
Slowfood-Spezialitäten
Bade- und Wanderregion